Bilanz: Strategisch gescheitert. Zum Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“

Katja Mielke (Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc)), Winfried Nachtwei (Münster)

Im Februar dieses Jahres hat die 2022 vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission ‚Lehren aus Afghanistan für das zukünftige vernetzte Engagements Deutschlands‘ ihren Zwischenbericht zur Aufarbeitung des deutschen Einsatzes in Afghanistan zwischen 2001 und 2021 veröffentlicht. Der Bericht bilanziert, inwiefern die politischen, wirtschaftlichen, entwicklungs- und sicherheitspolitischen Ziele der internationalen Koalition in Afghanistan erreicht wurden und analysiert die Rolle und den Beitrag der deutschen Akteure für die Ziele der Koalition. Der Fokus der parlamentarischen Aufarbeitung liegt sowohl auf den tatsächlichen Einsatzergebnissen als auch der Arbeit der politisch-strategischen Ebene, einschließlich der Zusammenarbeit zwischen den beteiligten staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im nationalen und internationalen Rahmen. Im Unterschied zu bisherigen Teilevaluierungen, wie jener des zivilen Engagements der Bundesregierung im Zeitraum 2013-2021 (also vor allem der Rolle von Auswärtigem Amt, Bundesministerium des Innern und für Heimat und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), betrachtet die Enquete-Kommission auftragsgemäß das deutsche Gesamtengagement über die komplette Einsatzdauer von 20 Jahren in seiner ganzheitlichen zivil-militärisch-polizeilichen Dimension. Die Arbeit der Kommission hat damit einem großen Teil der Öffentlichkeit die zuvor wenig bekannte Tatsache vermittelt, dass der deutsche Einsatz in Afghanistan keineswegs nur militärischer Natur war.

Ergebnisse der Kommission

Das Fazit der Kommission, in der die beiden Autoren des Kommentars als sachverständige Mitglieder fungieren, fiel äußerst kritisch aus und deckte sich mit der öffentlichen Wahrnehmung vom Einsatz als gescheitert. Das deutsche Engagement wurde als eine fatale Mischung aus durchgehender Strategielosigkeit und überambitionierten Zielen charakterisiert. Abgerundet wird das Bild durch die Bescheinigung einer ignoranten Absenz von selbst basalstem Sachverstand der gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontexte Afghanistans. Keines der Einsatzziele wurde erreicht: Weder wurde das Land befriedet, noch eine unabhängige Justiz oder Verwaltung aufgebaut, geschweige denn eine belastbare Wirtschaft etabliert, die beispielsweise in der jetzigen humanitären Krise die Afghan:innen vor dem Verhungern bewahren würde. Das Gros der internationalen Hilfsgelder wurde nicht in die wirtschaftliche Entwicklung, sondern den Ausbau des Sicherheitsapparates gesteckt – eine Praxis, mit der imperiale Akteure im 19. und 20. Jahrhundert qua politischem Design einen finanziell verabhängigten, doch aus heutiger Sicht durch und durch dysfunktionalen afghanischen Staat geschaffen haben. Genau dieser, über zwei Jahrzehnte hinweg finanziell aufgepumpte Sicherheitsapparat ist im August 2021 innerhalb weniger Stunden implodiert.

Auf der Ebene der Bundesregierung und den involvierten Ministerien wurden die Ziele des Engagements durch Realitätsverleugnung, das Fehlen einer realitätsnahen Strategie und der Unfähigkeit zum institutionellen Lernen unterminiert. Dieses gesamtinstitutionelle Regierungsversagen hat schließlich eine Reihe unbeabsichtigter und zusammenhängender (Neben-)Effekte gezeitigt, durch die das Scheitern der Mission im Nachhinein besonders deutlich wird, darunter:

  • die Ausbreitung und Nichtahndung von Korruption und Klientelismus, u. a. durch die Auswahl von fragwürdigen Partnern vor Ort (Milizenführer, Kriegsverbrecher mit teilweise dschihadistischem Hintergrund etc.);
  • die Minderung einer sowieso schon gering ausgeprägten Eigenverantwortung (ownership) der afghanischen Behörden und offiziellen lokalen Partner;
  • die sukzessive Entfremdung der afghanischen Bevölkerung vom Ziel des Staatsaufbaus nach rechtsstaatlichen und demokratischen („westlichen“) Prinzipien;
  • die indirekte Ausweitung von Möglichkeiten für die Taliban, vor allem im ländlichen Raum ihre eigene Rechtsprechung als legitime und unbestechliche Alternative zu den afghanischen Behörden anzubieten;
  • die Ausbreitung zahlreicher bewaffneter dschihadistischer Gruppen in Afghanistan als Resultat der praktizierten Doppelstandards und des Glaubwürdigkeitsverlustes der internationalen Intervention, hier insbesondere der US-geführten Terrorbekämpfungseinsätze von Operation Enduring Freedom und CIA, denen viele unschuldige Zivilisten zum Opfer fielen. Schätzungen zufolge wurden in dem 20jährigen Gewaltkonflikt seit 2001 mindestens 47.000 Zivilisten in Afghanistan getötet. Der spezifische deutsche Anteil an den oben genannten Entwicklungen kann nicht quantifiziert werden, ist aber relevant und unbestritten.

Verantwortlichkeiten und institutionelles Lernen

Die Enquete-Kommission hat ihren Respekt für die tausenden von Deutschland entsandten Frauen und Männer ausgedrückt, die mit hohem Einsatz zu zeitweiligen Teilfortschritten insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen beitragen konnten, durch das Scheitern des Einsatzes jedoch (weitgehend) wieder zunichte gemacht wurden. Hierbei ist wichtig zu beachten, dass die Kommission kein Untersuchungsausschuss ist, der nach Verantwortlichkeiten für die gravierenden Fehler des Einsatzes sucht. Eine Suche nach „Schuldigen“ wäre für die Ermittlung der Ursachen des strategischen Scheiterns und das notwendige institutionelle Lernen kontraproduktiv. Das strategische Scheitern war schließlich das „Gemeinschaftswerk“ eines kollektiven politischen Führungsversagens in vielen Hauptstädten, angefangen in Washington, über Kabul und Islamabad bis hin zu Berlin und anderen europäischen Hauptstädten, die den fragwürdigen Verlauf des Einsatzes stillschweigend hingenommen haben. Berlin kann man wenigstens zugutehalten, dass sich in den deutschen Verantwortungsbereichen des Einsatzes immerhin um Nähe zur Bevölkerung und einen unterstützenden Ansatz bemüht wurde. Jedoch blieben die Verantwortlichkeiten für Fehlentwicklungen und -entscheidungen anonym. Während die Bundeswehrsoldat:innen ihren Kopf hinhielten und für den Einsatz ihre Gesundheit und ihr Leben riskierten, stand in der deutschen Politik nie jemand zur Verantwortung, kein Kanzler, keine Kanzlerin, und kein – eigentlich federführender – Außenminister. Ein Grund hierfür liegt auch in Versäumnissen bei der Kontrolle durch den Bundestag. Die Kommission, die selbst zur Hälfte aus Bundestagsabgeordneten besteht, kritisierte die parlamentarische Kontrolle des Einsatzes vor allem in politisch-strategischer Hinsicht als mangelhaft. Für eine bessere parlamentarische Kontrolle wäre es während der letzten 20 Jahre notwendig gewesen, dass die Fraktionen ihre eigene Haltung zum Afghanistan-Einsatz regelmäßig überprüft und entsprechend angepasst hätten. Diese Chance zum wirklich selbstkritischen Lernen wurde bisher nicht genutzt.

In der aktuellen zweiten Phase der Enquete-Kommission werden auf Basis der Aufarbeitung und der aus dem Afghanistan-Einsatz gezogenen Lehren konkrete Empfehlungen für das zukünftige internationale Krisenmanagement der Bundesregierung erarbeitet. Dabei wird vor allem die Notwendigkeit der Etablierung einer konstruktiven Fehler- und Lernkultur eine zentrale Rolle spielen, wenn es in Zukunft nicht mehr zu derart eklatanten Versäumnissen beim institutionellen Lernen kommen soll. Dafür wird es ebenso notwendig sein, für künftige Fälle von vernetztem Engagement Deutschlands handlungsleitende Instrumente und Maßstäbe zur Evaluierung der Wirkung und Wirksamkeit von Einsätzen zu entwickeln.

Verantwortung für die Zukunft: Kein Afghanistan-Schlussstrich

Aus dem komplexen Scheitern des Afghanistan-Einsatzes ergibt sich eine besondere Mitverantwortung der Bundesregierung für die aktuelle Situation in Afghanistan. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden könnte die Bundesregierung zum Beispiel ein Afghanistan-Konzept erarbeiten, in dem sich Deutschland zur Verbesserung der Lebensumstände der notleidenden Bevölkerung verpflichtet und dabei die diplomatische Nicht-Anerkennung des „Islamischen Emirates“ einhält. Ein solches Konzept sollte auch Leitlinien für eine verantwortungsvolle Asylpolitik definieren und die fortdauernde Aufnahme von weiterhin gefährdeten Afghan:innen garantieren. Schließlich hat die Bundesregierung auch drei Jahre nach dem NATO-Truppenabzug keine kohärente Afghanistan-Politik vorzuweisen. Stattdessen wird im Kontext wiederaufflammender Abschiebedebatten erneut der Schutzstatus geflohener Afghan:innen infrage gestellt. Unterdessen muss die afghanische Bevölkerung die Folgen des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes tragen. Hier sei auf die repressive Politik der Taliban gegenüber als solchen identifizierten Regimegegnern (Journalist:innen, Beamte und Sicherheitskräfte der Vorgängerregierung, Salafisten etc.) verwiesen, die systematische Entrechtung von Frauen und Mädchen, die teilweise Marginalisierung und Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten, die wirtschaftliche und humanitäre Krise, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, die flächendeckende Ernährungsunsicherheit und die weitreichende Perspektivlosigkeit.

Die humanitäre Hilfe, die gegenwärtig über multilaterale Treuhandfonds und die Strukturen und Partner der Vereinten Nationen vor Ort geleistet wird, trägt kaum zur Minderung der humanitären Krise bei und vertieft stattdessen die Abhängigkeit Afghanistans von internationaler Unterstützung. Das Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verfolgt den sog. prinzipiengeleiteten Ansatz, nur mit Frauen für Frauen in Afghanistan zu unterstützen und regierungsfern zu implementieren, also unter Umgehung der Behörden des Islamischen Emirats. Aus diesem Grund ist der Umfang der von Deutschland geleisteten Unterstützung äußerst gering, sehr punktuell und schließlich nur dort möglich, wo die Taliban-Autoritäten dies zulassen. So schließen und öffnen sich Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit afghanischen Frauen oftmals temporär und ad hoc, was keine Grundlage für beispielsweise längerfristig angelegte Ausbildungs- und Trainingsprogramme bietet, die dazu beitragen könnten, Frauen in die Lage zu versetzen, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, sich untereinander zu organisieren oder auch ihre Verhandlungsfähigkeiten gegenüber den Taliban-Behörden zu stärken. Die Förderung von Resilienzkapazitäten zur gezielten Unterstützung und Stärkung der afghanischen zivilgesellschaftlichen Handlungsfähigkeit kann nur bedingt über humanitäre Maßnahmen stattfinden.

Der aktuelle Afghanistan-Diskurs in Deutschland verengt die politischen Optionen künstlich auf eine mögliche offizielle Anerkennung der Taliban – die wir nicht befürworten – und den aktuell verfolgten Ansatz der Nicht-Anerkennung plus begrenzter Leistung von Nothilfe. Jedoch besteht jenseits dieser binären Optionen ein Spektrum von Möglichkeiten, die dazu beizutragen können, der afghanischen Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben und Überleben zu sichern. Hierzu gehört vor allem die Zusage für eine bessere Finanzierung von Maßnahmen zur parallelen Umsetzung in mehreren Sektoren wie Gesundheit, Bildung, Ernährung, sowie Hitze- und Winterschutz. Zur Sicherstellung der gewünschten Wirkungen bedarf es allerdings einer unterschwelligen Interaktion mit den Taliban, konkret: einer inhaltlichen Kommunikation, die über den reinen Austausch von Informationen hinausgeht. Dafür wäre die Einrichtung eines deutschen Verbindungsbüros in Kabul zweckdienlich und empfehlenswert. Für Afghanistan auch jetzt und zukünftig Mitverantwortung zu übernehmen, ist angesichts der Kosten, Opfer und des letztendlichen Desasters des deutschen Afghanistan-Engagements kein Widerspruch zu einer werte- und interessenorientierten Außenpolitik

 

Über die Autoren

Dr. Katja Mielke ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc), wo sie u. a. zu Governance-Prozessen, Peacemaking und sozialen Ordnungen in Afghanistan, Pakistan, Irak und Tadschikistan forscht. Sie hat Politikwissenschaft sowie Osteuropa- und Mittelasienwissenschaften studiert und wurde mit einer Arbeit über lokale Ordnungsstrukturen und Staatlichkeit in Nordost-Afghanistan promoviert. Sie ist sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“.

Winfried Nachtwei war von 1994 bis 2009 Mitglied des Bundestages (Bündnis 90/Die Grünen), ist Mitglied des Beirats Zivile Krisenprävention der Bundesregierung und sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“.